„Fremdlinge, sagt, wer seid ihr? Von wannen trägt euch die Woge?
Habt ihr wo ein Geschäft, oder kreuzt ihr ohne Bestimmung
Hin und Her auf der See, wie landumirrende Räuber,
Die das Leben wagen, um bei den Fremden zu plündern?
(Odyssee, Neunter Gesang, Vers 252-257, Homer)
Mit der Frage des Riesen Polyphem und der listigen Antwort des Odysseus möchte ich eine Handvoll Gedanken einleiten, die sich mit der aktuellen Wertigkeit des digitalen Besuchers in vielen deutschen Kultureinrichtungen beschäftigen: „Niemand ist mein Name; denn Niemand nennen mich alle, meine Mutter, mein Vater, und alle meine Gesellen„.
Der digitale Besucher ist ein Niemand?
Auf die Rolle eines solchen „Niemand“ scheint zuweilen (noch immer) der digitale Besucher reduziert zu werden. Er ist vorhanden, aber nicht greifbar. Er ist da, aber irgendwie nicht wesentlich. Er will wahrgenommen werden, – und wird nicht verstanden. Im Sinne vieler Einrichtungen wird nur der zum echten Besucher und damit einem fakturierbaren Wesen, wer reale Eintrittskarten kauft und in tradierten Statistiken erfasst werden kann. Der „virtuelle“ Besucher wird gerne noch vom vermeintlich „realen“ Besucher unterschieden, – obwohl er mindestens genauso real ist, vielfach sogar zahlreicher und aktiver mit den vermittelten Inhalten agiert. An der Stelle, wo aus dem „Consumer“ im Museum endlich ein „Prosumer“ werden könnte, scheitern viele Häuser. Der digitale Besucher erscheint vielmehr, ganz im Homer’schen Sinne als „landumirrender Räuber“, der aus der Orientierungslosigkeit des Netzes eingefallen ist, um die Aura des Originals oder wenigstens die Bildrechte zu plündern. Oder er erscheint gar nicht, – vielleicht weil es so verdammt schwer ist, mit dem einen Auge des Riesen richtig zu sehen (auch schon vor der Blendung).
Der „Digital Manager“
Meine kleine Polemik mag überzeichnen, aber doch einen Kern markieren: das Problem liegt vielfach weder beim Besucher, noch beim besuchten Ort und seinen definierten Akteuren, sondern schlicht in den erlaubten Instrumenten, den Evaluierungsmaßnahmen, Monitoringtools, der Wahrnehmung und Kommunikation um die Erscheinungsformen des Digitalen. Alles zusammen wollte man in die Hände eines „Digital Managers“ bündeln, der in den meisten deutschen Kultureinrichtungen leider noch immer mehr Fantasie als Realität ist.
So viel mehr als Marketing
In vielen institutionellen und institutionailsierten Bewertungsrastern hat das Digitale noch keinen festen Platz und wird als „Marketingmaßnahme“ abgehandelt. Eine solche Bewertung greift aber viel zu kurz. Die Zahl der Zugriffe auf die Website, die Visits im hauseigenen Blog, die Downloadzahlen der eigenen App, die Sichtbarkeit auf Facebook oder Twitter und der Dialog mit der eigenen Community, etc. sind aber tatsächlich schwer in einen Zusammenhang zu bringen, wenn Übersicht und Präzision fehlen. Eine Strategie ist kaum zu entwickeln, wenn man die einzelnen Strukturen nicht sauber interpretieren und in ihren Wechselwirkungen analysieren kann. Weit entfernt also von der Vorstellung funktionierender „social places“ tun sich viele Einrichtungen, vor allem in Deutschland, schwer, den Umgang mit dem digitalen Publikum zu verstehen, zu gestalten und zu etablieren.
Was genau bedeutet „Umgang“ mit dem digitalen Publikum?
Fragt man sich, was diesen „Umgang“ denn kennzeichnet, so fallen mir dazu mindestens drei Dimensionen ein:
1. Der direkte Umgang vor Ort
Der direkte Umgang vor Ort bedeutet die Bereitstellung unmittelbarer Service- und Interaktionsangebote an das digital aktive Publikum im eigenen Haus. Das fängt z.B. mit der Verfügbarkeit und angemessenen Kommunikation von Wifi bzw. Netzempfang im eigenen Haus an und setzt sich in die Vermittlung digitaler Angebote aus dem Kontext eigener Themenstellungen fort. Downloads, Streaming und Apps sind hier ein großes Thema. Warum nicht mal den Ausstellungkatalog, Multimediaguide oder Audioguide als App oder zum Download? Oder eine dezidierte Downloadzone im Foyer? Es ist immer wieder erstaunlich, warum Häuser Microsites, Landingpages, Apps oder Audioführer realisieren, dann aber nicht ausreichend über diese Angebote reden oder diese dem Publikum auch vor Ort (!) oder im thematischen Zusammenhang möglichst einfach verfügbar machen. Zur Dimension des „direkten Umgangs“ zählt für mich aber auch das Nachdenken über Handy- und Fotoverbote im eigenen Haus, die Liveprojektion von Mediawalls sowie alle Maßnahmen zur Verbindung von Analog und Digital wie QR-Codes an Objekten, etc.
2. Umgang mit den Usern auf Website, Datenbanken und Initiativen im digitalen Raum
Der tradtionelle Webauftritt gehört längst in den festen Informations- und Kommunikationskanon von Museen, Theatern, Archiven oder Bibliotheken. So unterschiedlich diese Webseiten auch sein mögen, so sehr mag es doch erstaunen, dass viele Einrichtungen (kleine wie große) nicht beobachten, was auf diesen Seiten eigentlich geschieht und folgend auch nicht reflektieren, was man damit machen könnte oder müsste. Auch die Themen „Open Innovation„, „Open Glam„, „Open Content„, „Open Access“ oder „Open Data“ gehören in diesen Kontext und wären entsprechend zu bewerten.
Viele Institutionen haben zudem nur einen rudimentären Eindruck der tatsächlichen Zugriffe auf die eigenen digitalen Angebote und reagieren entsprechend verhalten auf wesentliche Tendenzen und wichtige Entwicklungen. So findet etwa die Tatsache, dass heute bald 40 % der User mit dem Smartphone oder Tablet auf eine Website surfen, in vielen Einrichtungen kaum Berücksichtigung. Die Ursachen dieser Defizite und Fehlentwicklungen sind vielfältig. Sie reichen von städtisch oder staatlich verordnetem Reporting- bzw. Monitoringverbot über fehlendes Personal und/oder Kompetenz, mangelnde Geldmittel bis zu bewußter Ignoranz. Die Konsequenzen sind umso dramatischer, je erfolgreicher die digitalen Angebote eigentlich sind und je mehr Publikum sie ziehen. Thema ist hier sicher nicht nur der „Datenschutz“ und auf Google Analytics zu beschränken, für das es ohnehin viele Alternativen gibt.
Ich halte es für unverichtbar, dass Kultureinrichtungen in die Lage versetzt werden, über die eigenen digitalen Angebote nachzudenken und professionelle Strategien zu entwickeln. Das Digitale wächst längst als Gestaltungsspielraum in die Aufgaben der Ausstellungs- und Theatermacher hinein. Die Tate hat das bereits 2004 begriffen und verfolgt seitdem den massiven Anstieg der Onlineaktivitäten, denen das Museum als Plattform ein inspirierendes Forum gibt: „Digital as a dimension of everything“.
3. Dialog und Interaktion über die sozialen Medien
In Zeiten von Web 2.0 bedeutet „Umgang“ aber auch den reflektierten, strategischen und proaktiven Dialog mit dem digitalen Publikum in den sozialen Medien. Aus dem Monolog der Institutionen ist in deutlichen Ansätzen bereits ein Dialog mit der eigenen Community geworden, – die Kultureinrichtungen erzählen über ihre Inhalte nicht nur wesentlich mehr, mitunter „live“ und anders (schöne Beispiele der neuen Formate: die twitternden Kuratoren in der Tate, die Google Art Talks oder Twitterformate wie askacurator), sondern hören auch zu und reagieren auf die Impulse der Crowd. Wir stehen sicher erst am Anfang einer Entwicklung die von einem Paradigmenwechsel gekennzeichnet und in einem schnellen Wechsel immer neue Formate und Plattformen generiert. Während man in Deutschland aber vielfach noch den Aufbruch diskutiert, denkt das Ausland gerne schon das Digitale weiter.
Der letzte Gefährte und der blinde Riese
Polyphem hatte dem Odysseus in der Rolle des freundlichen „Niemand“ versprochen, ihn erst als letzten der Gefährten zu fressen. Ganz so drastisch würde ich die Situation dann doch nicht zeichnen wollen. Aber womöglich braucht es schon ein paar „Listen“, um die Riesen dieser Welt auf die Spur zu bringen. Es ist aber gut zu wissen, dass es am Ende doch der „Niemand“ war, der aus dem Abenteuer erfolgreich hervorgegangen ist. Polyphem war übrigens am Ende blind, – hoffen wir, dass das den Kultureinrichtungen erspart bleibt und sie ihre Sehfähigkeiten und Sichtbarkeit weiter entwickeln (können).
Dazu via @IrgendwieJuna: „Der Digitale Besucher und seine Wertlosigkeit“ http://irgendwiejuedisch.blogspot.de/2014/06/der-digitale-besucher-und-seine.html?spref=tw
Mit dem anonymen Kauf einer Eintrittskarte weiss das Museum immer noch nicht, wer sein Besucher ist.
Ich kenne aus vielen Museen Besucherbücher, in denen der geneigte Besucher handschriftlich seine Kommentare eintragen kann. Noch nie ist mir in einem Museum eine Liste zur Erfassung von Newsletter-Interessenten aufgefallen ….
Vielen Dank für diesen wichtigen Artikel! Ich wubdere mich schon lange, warum sich so viele Museen so schwer tun, ihre Vermittlungsaufgabe auch aufs Internet auszuweiten – wer hat gesagt, dass Besucher immer vor Ort sein müssen?
Viele Grüße aus Kopenhagen,
Marlene
Lieber Herr Gries,
vielen herzlichen Dank für diesen Artikel! Wie an anderer Stelle bereits gesagt: Zu diesem Thema muss unbedingt ein Umdenken einsetzen. In vielen Städten und Kommunen werden Museen leider immer noch an der Zahl der „analogen“ Besucher (oft übrigens im Verhältnis zur qm-Zahl der Ausstellungsfläche) gemessen und entsprechend hinterfragt. Das Ergebnis ist für manch Haus/Ausstellung manchmal sehr gut, in der Regel aber schlecht. Aktuell bedeutet das also, dass der Bildungsauftrag der Häuser nur für echte und gerne für zahlende Besucher gilt. Freier Eintritt für alle ist leider eine Art „Unwort“ für uns geworden und nur in Ausnahmefällen realisierbar (die jedoch ihre Tücken haben…). Wir versuchen, um eine größerer Außenwirkung zu erzielen, seit 2009 eine Art umfassende It-Strategie, intern wie extern, in unserem Haus zu realisieren und sind von dem Ergebnis schier überwältigt. Alleine 100.000 Zugriffe auf unsere Texte, Bilder bzw. Objekte im Google Art-Project, sind ein gutes Beispiel für Akzeptanz von digitalem Kulturcontent und das weltweit!
Diese Zahlen werden bisher von den Trägern nicht wahrgenommen! Bleibt also die Frage wo fängt der Bildungsauftrag an und wo hört endet er? Als Haus „am Rande einer Stadt“ können wir es uns nicht leisten, hier zu differenzieren…
Noch wissen wir jedoch nicht wie wir mit diesen Zahlen umgehen, gar werben können – ein muss ein Umdenken muss her und dies auch bei den öffentlichen Trägern der Museen.
Wir werden künftig gegenüber der Hamburger Kulturbehörde auch diese Zahlen im jährlichen Report melden und sind gespannt auf die Reaktion.
Viele Grüße aus Hamburg
Michael
Ich habe gerade die Erfahrung gemacht, dass auch der analoge Besucher nicht so wirklich beachtet wird, geschweige denn online… http://mome.at/2014/06/11/besucher-kommunikation-im-museum/
Free Wifi finde ich eine sehr wichtige Anforderung. Gerade in Museen ist der Funkempfang schlecht wegen dicker Mauern (alte Häuser, Schlösser etc.) – und mittlerweile sind ja daran gewöhnt, uns Zusatzinfos schnell online zu beschaffen. QR-Codes an den Bildern / Objekten wären eine große Hilfe.
Im letzten Jahr gab es in der Weserburg/Bremen eine Ausstellung, wo zumindest im Foyer Free Wifi angeboten wurde UND eine kostenlose APP zur Ausstellung. Das war schon mal großartig – die 60 MB hätten über 3G oder 2G Stunden gedauert, per Wifi war das ruckzuck erledigt.
Zum leidigen Fotografieren hier ein Artikel aus dem Telegraph, demzufolge die National Gallery in London das Fotografierverbot aufgegeben hat: http://www.telegraph.co.uk/culture/art/art-news/11028015/National-Gallery-relents-over-mobile-phones.html?fb.
Mein Kommentar dazu auf FB:
„Den Trend wird niemand aufhalten. Finde ich auch gut so. Ich habe noch nie verstanden, warum man z.B. Bilder, deren Maler seit langem tot sind, nicht fotografieren darf. Wer hat das Urheberrecht an diesen Bildern? Und: staatliche Museen z.B. gehören dem Staat, also uns, den Bürgern. Wieso dann ein Fotografier-Verbot?
Wunderbare Ausnahme, erst letztens gesehen: Vancouver Art Gallery ermutigte Besucher in der Copeland-Ausstellung dazu, Fotos zu machen (auch wenn ich dann ein Stockwerk höher gleich angeraunzt wurde, als ich nur eine Erklärung zur Ausstellung fotografierte – dort galt schon wieder ein Verbot). Und: das Miniaturwunderland in Hamburg forderte seine Besucher schon immer auf, soviel zu fotografieren wie sie wollen …“
Im Nachgang ergab sich auf FB ein Austausch zum Thema Fotografierverbot. So richtig erklären kann es niemand. Blitzen früher war sicher mit Wärme verbunden, die möglicherweise schädlich ist – aber das ist bei heutigen Geräten, vor allem Smartphones mit LED, überhaupt kein Thema mehr. Und die Copyrightfrage stellt sich doch bei Bildern nicht, die sich in öffentlichen Museen befinden, die gehören doch quasi mir, dem Steuerzahler 😉