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Iliou melathron

Blog von Christian Gries / ISSN 2197-7747

Nachlese zur Tagung „Rezensieren – Kommentieren – Bloggen: Wie kommunizieren Geisteswissenschaftler in der digitalen Zukunft“ am 31.01./01.02.2013 in München

Nachlese zur Tagung „Rezensieren – Kommentieren – Bloggen: Wie kommunizieren Geisteswissenschaftler in der digitalen Zukunft“ am 31.01./01.02.2013 in München

cropped-Tagungsbanner_neu_96„Wie kommuniziert der Geisteswissenschaftler in der Zukunft“ fragte die „Rezensionsplattform für die europäische Geisteswissenschaft“ recensio.net zum zweijährigen Online-Jubiläum und lud Anfang Februar zahlreiche Redner und Teilnehmer nach München zum gemeinsamen Austausch über die expandierende elektronische Welt an den Hochschulen und in den Wissenschaften.
Im Nachklang hat sicher der „netzernüchternde“ Beitrag von Valentin Groebner (Uni Luzern) das meiste Echo gefunden, zumal einige Thesen des Historikers auch zwischenzeitlich in der FAZ publiziert wurden. Die Tagung bot aber einiges mehr als Spekulationen über die „vermeintlich mythische Fabel des Netzes“ und so will ich dem hier noch etwas Raum geben:

Expertenschwund und Karriererelevanz

Zunächst war es Gudrun Gersmann (Universität Köln), die in einer polarisierenden Keynote Geschichte und Strategien der Rezensionen und dann die Vorteile einer Netzpublikation erläuterte. Die großen Zeiten der Rezension datierte sie in die Vergangenheit und markierte wesentliche Ursachen im Rezensentenschwund, Attraktivitätsverlust und der mangelnden Karriererelevanz. Vor der These von Blogs und Tweets als aufmerksamkeitsgenerierenden Instrumenten konstatierte sie einen Expertenschwund und stellte die Frage, ob der traditionelle „Experte“ überhaupt noch eine Figur der Zukunft sei. Für Gersmann ist das Internet ein Medium der Kürze und der aggressiven Form, wobei gerade die Fragmentierung eine Voraussetzung der Vernetzung markiere. Aus der Aggregation der kleinen Formate wachse dann aber die große Form.
Die folgende Dikussion unter der Leitung von Hubertus Kohle brachte mit den den Diskutanten Martin Baumeister (Deutsches Historisches Institut, Rom)Danny Millum (University of London) und Marko Demantowsky (Pädagogischen Hochschule FHNW, Basel) und Gudrun Gersmann ein prominent besetztes Forum auf die Bühne. Unter Verweis auf Lissitzkys These, dass „jede Form das erstarrte Momentbild eines Prozesses ist“ forderte Kohle offenere und transparentere Strukturen der Kommunikation, bei denen es aber eben nicht darum gehe, in der anonymen Crowd auf- bzw. unterzugehen, – sondern sichtbar zu werden: „Entweder wir gehen da rein (Anm.: ins Internet), oder wir marginalisieren uns“. Visibilität sollte gerade von jüngeren Wissenschaftlern auch als Chance verstanden werden, um die eigene Reichweite und Wahrnehmung zu  steigern.
Der digitale Alltag des Wissenschaftlers
Den zweiten Veranstaltungstag eröffnete Johannes Paulmann (Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz), der einen detaillierten Einblick in einen exemplarischen Arbeitstag eines Geisteswissenschaftlers ermöglichte und Auskunft darüber gab, wie die zunehmende Digitalisierung den Arbeitsalltag verändere. Er markierte Tools wie Skype, Google oder Blogs als hilfreiche Kommunikationsinstrumente im (auch gerade durch das Web) immer internationaleren Austausch und resümierte dann eigene Ansichten zu neuen Publikationsformen und den Grenzen bzw. Problemen von Open Access.
Öffentlichkeit als Gefahr
In der folgenden Diskussion saßen mit  Etienne Benson (Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin)Peter Haslinger (Herder-Institut Marburg)Matthias Kohring (Universität Mannheim)Claudine Moulin (Universität Trier) und Johannes Paulmann Vertreter unterschiedlicher Positionen auf der Bühne. Während der eine Teil den Expertensturz zur Expertendämmerung milderte und den „deutschen Sonderweg“ im Digitalen markierte, forderte die andere Seite „Brücken in die Öffentlichkeit“ oder sogar die Verpflichtung darauf (zumal wenn Projekte aus öffentlichen Mitteln gefördert werden). Spannend wäre es wohl gewesen, Sinn und Vorstellung der „Öffentlichkeit“ vor dem Hintergrund einer wissenschaftlichen Community weiter zu diskutieren. Dabei wäre eben wohl eben nicht nur eine wissenschaftliche Öffentlichkeit zu diskutieren, sondern auch eine zweite Front zur breiten Öffentlichkeit, da gerade diese über den digitalen Raum mit völlig anderen Zielstellungen und Möglichkeiten erreicht werden kann. Tatsächlich tauchte auf der Tagung ein Wort nicht auf, das noch in den vergangenen Monaten auf fast allen Web-2.0-Konferenzen fast inflationär diffundierte: „Transparenz“. Im Gegenteil brachte das Forum kurz die Frage auf, ob „Öffentlichkeit grundsätzlich eher als Gefahr“ für Wissenschaft zu verstehen sei. Ich denke aber, dass es auch genau um dieses Verständnis von Öffentlichkeit gehen sollte und muss. Der Historiker Anton Tantner hat das in einem Blogpost sehr schön formuliert: „Tatsächlich braucht Wissenschaft Weltabgewandtheit, ja geradezu die Weltfremdheit im Elfenbeinturm, um das vermeintlich Selbstverständliche einer Analyse zu unterwerfen, um neues Wissen generieren zu können. Doch wird Wissenschaft zumeist durch öffentliche Gelder finanziert und dies rechtfertigt nur zu sehr den Anspruch ebendieser Öffentlichkeit, über die Ergebnisse der Forschung in allgemein verständlicher Form informiert zu werden.
Bloggen als Masturbation
Valentin Groebner also. Der Professor für Geschichte mit Schwerpunkt Mittelalter und Renaissance an der Uni Luzern präsentierte auf der Tagung den markantesten Beitrag. Er argumentierte präzise und klug. Ein Denkstück aus historischen Betrachtungen zur wissenschaftlichen Kommunikation, aus Analysen und Thesen. Schade, daß er sich dann aber doch nahtlos in die Phalanx der Netzkritiker einreihte und die Symphonie der vermeintlichen Netzunabhängigkeit spielte: „Das Netz ist eine mythische Fabel, die ihre eigene Wirklichkeit geschaffen hat“. „Das Netz ist die Zukunft von Gestern“. „Das Netz ist eine Zugehörigkeitsfiktion“. „Das Netz hat nichts neu gebracht, nur verstärkt und wiederbelebt“. Ja sogar eine Superthese: „Blogs vermitteln das Gefühl von rastloser Masturbation“. Groebner forderte in seinem Vortrag für die Wissenschaften eine „Information zweiter Ordnung“ ohne zu erkennen, dass der digitale Raum genau diese Informationen und Ebenen ermöglicht oder längst bereit hält. Offenbar ignorierte (oder kennt er gar nicht?) Portale wie Archivalia bzw. hypotheses.org, oder erklärt Netzpioniere und Aktivisten recht freigiebig zu „Hippies“, die im unübersichtlichen Netz nur große kreative Selbstbefruchtung oder lautstarke Erlösung propagieren. Er ignorierte scheinbar Technologien wie Twitter und Blogs, die genau diese Zwischenebenen längst präsentieren und zum „Konzentrieren“ und „Fokussieren“ zwingen. Erst kürzlich belegte eine US-Studie Twitter nicht nur als neue literarische Praxis, sondern auch als funktionales und sinnvolles Hilfsmittel für Studenten im Lernprozess: “twitter is evidently one of the best tools for learning and becoming an engaged student“. Groebners Vortrag war klug, hatte viele reflektierte Gedanken, – aber leider keine volle Sicht auf Instrumente und Technologien des Digitalen und vor allem keine neuen Antworten.
Groebner machte sicher zurecht deutlich, dass „Lesezeit“ die zentrale Ressource ist, um die es im Angesicht der Masse klassischer und digitaler Publikationen geht. In seinem Vortrag vermittelte er aber auch das Gefühl, dass es nicht nur um eine Haltung zum Digitalen geht, sondern um den Gebrauch der richtigen Instrumente. Man mag den „warmen, weichen Hippikitsch“, die ewige Apologie oder Apotheose des Digitalen zur Seite stellen, und sich auf den Kern besinnen. Das Netz ist nicht nur Kommunikation und Publikation. Meiner Meinung nach geht es auch um neue Formen des Denkens und Grübelns. Einen Tweet zum Beispiel verstehe ich vielfach auch einfach als einen (öffentlich geäußerten) Gedanken. Er evoziert ein Echo, das man verwerfen oder für einen nächsten Gedanken nutzen kann. Auf der Tagung aber habe ich den Eindruck gewonnen, dass hier, was den erfahrenen Umgang mit den Instrumenten des Digitalen angeht, sehr viel theoretisiert und fabuliert, aber wenig echte Praxiserfahrung reflektiert wurde. Netz-Aggregatoren und RSS-Reader (wie Google Reader) erlauben einen schnellen und präzisen Blick auf zahlreiche Blogs und Informationsquellen in 2.0. Twitterlisten und Monitoring- bzw. Alert-Applikationen (wie Mention oder Google Alert)  machen es gar nicht notwendig, hunderte Websites oder Blogs permanent abzusurfen, sondern melden sich bei mir, wenn ein Thema oder Schlagwort irgendwo auftaucht. Zeit ist auch meine Ressource und ich gehe mit ihr unendlich sorgsam um. Groebners Beitrag scheint mir ein Appell zur Professionalisierung der eigenen Instrumente.
Dem Beitrag von Groebner folgte eine Podiumsdiskussion mit Vertretern von Förderinstitutionen, Nachwuchswissenschaftlern und dem Blogger Thorsten Thiel („Theorieblog„). Auf dem Podium neben Groebner nun auch Oliver Hülden (Ludwig-Maximilian-Universität München)Anne Lipp (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Scientific Library Services and Information Systems) und Winfried Schulze (Stiftung Mercator, Hochschulratsvorsitzender Universität Paderborn). Als aktiver Blogger und Mann der Praxis machte Thorsten Thiel zügig die Vorteile deutlich, die  das Bloggen für Studenten bringt: Transparenz des Wissenschaftsbetriebs, Informationsbeschaffung, Training und Expertisen für strukturiertes Denken und richtiges Schreiben, Reputationsdynamik und vieles mehr.
Nachlese
In einer Vielzahl von Nachlesen wurden die Thesen der Tagung bereits diskutiert. Hauptreibungspunkt dürfte dabei der Beitrag von Valentin Groebner sein, der seine „Netzernüchterung“ zwischenzeitlich an vielen Fronten verteidigen muss. Eine lesenswerte Zusammenstellung von Beiträgen zu der von Groebner angestoßenen „Masturbations-Debatte“ von Klaus Graf auf hypotheses.org und weiter bei Archivalia.
Recensio.net ist für diese gelungene Veranstaltung zu danken. Mit der Bemerkung „Wir sind längst mittendrin“ hat Lilian Landes ihr Resumé der Veranstaltung überschrieben. Tatsächlich hat sich seit der Veranstaltung im vergangenen Jahr doch vieles bewegt, das wohl in die „Mitte“ führt, – der digitale Graben bleibt aber unter dieser „Mitte“ deutlich spürbar. Während Instrumente und Plattformen glücklicherweise kontinuierlich verbessert werden, und auch dahinter Denker und Lenker stehen, steht die konservative Elite weiterhin fest in Opposition zu den Kulturtechniken des 21.Jahrhunderts und beharrt auf dem „warmen, weichen Hippiekitsch“. Ich bleibe dabei: Bei Wissenschaft 2.0 geht es um die Persönlichkeit, die Bereitschaft zur Veränderung und den Mut für neue Wege und neues (nicht zwangsläufig „wildes„) Denken. Wissenschaft 2.0 funktioniert nur dann wirklich gut, wenn sie auch “gelebt” wird.
Archiv: Tweets der Tagung unter #rkb13 (Auswahl)

2 comments

  1. Klingt wirklich richtig gut! 🙂

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