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Iliou melathron

Blog von Christian Gries / ISSN 2197-7747

"München leuchtet" – Nachlese zur Tagung "aufbruch. museen und web 2.0" und stARTcamp

"München leuchtet" – Nachlese zur Tagung "aufbruch. museen und web 2.0" und stARTcamp

Thomas Mann, Gladius Dei
Thomas Mann, Gladius Dei

1902 schickte Thomas Mann in seiner Novelle „Gladius Dei“ seinen Protagonisten Hieronymus durch die Münchner Innenstadt: „München leuchtete. Über den festlichen Plätzen und weißen Säulentempeln, den antikisierenden Monumenten und Barockkirchen, den springenden Brunnen, Palästen und Gartenanlagen der Residenz spannte sich strahlend ein Himmel von blauer Seide, und ihre breiten und lichten, umgrünten und wohlberechneten Perspektiven lagen in dem Sonnendunst eines ersten, schönen Junitages. Vogelgeschwätz und heimlicher Jubel über allen Gassen. Und auf Plätzen und Zeilen rollt, wallt und summt das unüberstürzte und amüsante Treiben der schönen und gemächlichen Stadt. Reisende aller Nationen kutschieren in den kleinen, langsamen Droschken umher, indem sie rechts und links in wahlloser Neugier an den Wänden der Häuser hinaufschauen, und steigen die Freitreppen der Museen hinan. (…)“. Im Schaufenster einer Kunstbuchhandlung entdeckte der schwermütige Jüngling die Reproduktion eines Gemäldes, das eine Madonna mit Kind in einer seiner Ansicht nach allzu freizügigen Manier zeigt: „Ein Weib zum Rasendwerden“.
Mit seiner Karikatur vom rächenden Schwert Gottes attackierte Thomas Mann den Kunstbetrieb seiner Zeit im Allgemeinen und den damals florierenden Münchner Renaissancekult im Besonderen. Er kritisierte die mangelnde Kreativität und einen Impuls, der immer wieder nur Vergangenes reproduzierte, über Imitationen reflektierte und Kunst aufs Dekors reduzierte.
110 Jahre später könnte man eine ähnliche Haltung einnehmen, in die Diskussionen über den sich im Urheberrecht erschöpfenden Kult des ewigen Reproduzierens einsteigen, im „Kulturinfarkt“ den Kunstbetrieb ermahnen und von mir aus auch die „Weiber zum Rasendwerden“ suchen. Oder eben etwas Licht nach München bringen. Fast 150 Museums- und Kommunikationsprofis hatten sich für Letzteres entschieden und vom 20.-21. Juni 2012 die Landeshauptstadt zum Leuchten gebracht: „aufbruch. museen und web 2.0“ bzw. stARTcamp München 2012. Aus den deutschen, schweizer und österreichischen Museen, Theatern, Verlagen, Universitäten, Instituten und Agenturen oder vom eigenen Schreibtisch strömte eine deutlich wahrnehmbare Schar kommunikationsgetriebener Fortschrittsdenker in die „Alte Münze“ und „Landesstelle für die nichtstaatlichen Museen in Bayern“, um sich während zweier Tage von einer nicht minder exklusiven Meute redseeliger Protagonisten inspirieren und anleiten zu lassen. Das Programm der Tagung versprach Bestandaufnahmen, Analysen, Ausblicke, neue Formate, Revolutionen und „Reisen durch Raum und Zeit“. Genug Material also für jede Menge Erleuchtung.
Brandfackel
Brandfackel

Die Brandfackel
Eine Brandfackel hatten wir angekündigt und uns im weiten Vorfeld der Tagung redlich Mühe gegeben, eine möglichst breite Orchestrierung für die Veranstaltung zu initiieren: 5 Tweetups, 1 (international besetzte und 18 Posts zählende) Blogparade, zahlreiche Videos , zwei Blogs (s.o.), zwei Twitteraccounts (@mukomuc und @scmuc12), eine Facebookseite, diverse Kampagnen über Facebook, Pinterest, Flickr, einen Pressebereich 2.0, sowie zwei Newsletter. In diesem Sinne wollten wir unsere Konferenz auch als Plattform verstanden wissen, die hemmungslos zum Nachahmen, Kopieren und Experimentieren, aber auch zum Kontakten mit den Experten und Anwendern auffordert. Um im Bild zu bleiben: Streichhölzer und Kerzen haben wir gereicht, – jetzt steht es an den Institutionen auch Licht zu machen.
Kopf und Herz
Um den Fokus zudem nicht nur auf die üblichen Verdächtigen, Presse und Marketing, zu richten, sondern deutlich zu machen, dass die Fragestellung von PR, Social Media und Digital Humanities auf eine ganzheitliche Öffnung der (Geistes)-Wissenschaften und Kultureinrichtungen (frei nach Christoph Deeg: „Social-Media als Querschnittfunktion“) gerichtet sind, wurden Referenten aus Museen, Theatern, Bibliotheken, sowie Agenturen und freie Berater geladen.  In der Kombination mit einen stARTcamp, als digitalem Werk- und Diskussionsraum, ergab sich ein weitläufiges Miteinander von Anwendern und (internationalen) Experten, von Suchenden, Orientierungslosen, Neustartern und Findern. Der erste Tag untersuchte Theorie und Vision, der zweite Tag einzelne Anwendungen und konkrete Themenstellungen.
Augmented-Reality-App „Ludwig II.“ der Bayerischen Staatsbibliothek
App „Ludwig II.“ der Bayerischen Staatsbibliothek

Mit großer Begeisterung hat das Publikum den Beitrag von Dr. Klaus Ceynowa über die Augmented-Reality-App „Ludwig II.“ der Bayerischen Staatsbibliothek“ aufgenommen. Sicher verdientermaßen, da die App sicher zu den aufwendigsten und herausragenden Produktionen im Markt zählt und die Staatsbibliothek zu den Pionieren im digitalen Raum. Erstaunlich aber, dass die App selbst offensichtlich im „Inner Circle“ der Social-Media-Gurus, Museum 2.0 – und Mobile Computing Experten kaum bekannt war und wohl auch noch ist. Ein schöner Hinweis auf Optimierungsbedarf in der Kommunikationsstrategie, auch wenn die Anwendung zeitweilig unter den Top-Ten-Produkten im iTunes-Store rangierte.
Hier entsteht Zukunft
Nicht weniger Begeisterung erntete dann auch für den Vortrag von Christoph Deeg, der nicht nur über digitale Lebensfreude redete, sondern sie auch präsentierte. Wortgewaltig hinterfragte er die Fundamente der Institutionen und machte deutlich, dass es bei Socialmedia nicht um neue Technologien geht, sondern um eine neue Art der Kultur. Die Basis dieser Kultur bedeuten „Kooperation“, „Interaktion“, „Offenheit“, „Vertrauen“, „Teilen“ und die (nachhaltige) Kompatibilität der Instutionen zu diesen Parametern. Dass sich auch die (Geistes-)Wissenschaften diesem Paradigmenwechsel stellen müssen, machte dann Dr. Lilian Landes deutlich, die ebenfalls „Mut“ und „Spaß“ als Erfolgsfaktoren für Wissenschaftsblogger markierte. „Gute Wissenschaftsblogger sind Dialogblogger“ so eine Ihrer zentralen Aussagen, – und eine vermeintlich komplizierte Technik kann keinesfalls mehr ein Hinderungsgrund für das digitale Publizieren sein. Trotz einer sich langsam optimierenden digitalen Publikationslandschaft (zu der das von ihr präsentierte Blogportal de.hypotheses.org wesentlich beiträgt) scheint gerade in Deutschland die Skepsis der Wissenschaftler zum Thema „Bloggen“ am größten. Kriterien, so Landes, sind die fehlende Qualitätskontrolle und die webbedingte Umordnung der Abläufe: in der Wissenschaft ist man daran gewöhnt, dass Qualitätskontrolle vor der Publikation kommt, – im Netz ist das genau umgekehrt (bzw. initiiert die Veröffentlichung erst die Qualitätsprüfung).
Zahlreiche Blogposts und eine ausführliche Videodokumentation
In bereits zahlreichen Blogposts wurden die vielen ausgezeichneten Themen, Beiträge und Eindrücke von Tagung und stARTcamp bereits diskutiert und analysiert (Kultur 2.0, IT and Art History, Audience+, Kulturbeutel, Das Nest, Kulturmanager, KultUp und Kulturblog). Zudem sind alle Vorträge der Tagung auf Video dokumentiert und die meisten Präsentationen via Slideshare verfügbar (vgl. dazu die entsprechenden Posts auf der Facebook-Seite der Tagung). Für mich an dieser Stelle noch mal ein herzlicher Dank an die Referenten und Teilnehmer, die diese beiden Tage zu einem so lebendigen und inhaltsreichen Forum haben werden lassen.
Tweets #mukomuc
Tweets #mukomuc

Kommunikationsdynamik und „Trending Topic“
Einen schönen Blick auf die Kommunikationsdynamik einer solchen Veranstaltung liefert das Diagramm der zur Tagung ausgeschickten Tweets (über 1.000), die aufgrund Ihrer Vielzahl sogar dazu beitrugen, dass der Hashtag #mukomuc zeitweilig sogar zum „Trendic Topic“ Nr.1 in Deutschland wurde. Nicht nur dass die Grafik deutlich macht, dass sich bei einer solchen Tagung mittlerweile im digitalen Raum eine zweite (internationale) Kommunikationsebene öffnet, auf der ebenso spannende Diskussionen geführt werden (oder ergänzende Links, Bilder und Informationen gepostet werden), – auch die Reichweite eines Events erhöht sich auf dieser Ebene drastisch. Passend dazu auch die Anmerkung der Referentin Dr. Lilian Landes, dass das Tweetsarchiv wunderbar zur Eventdokumentation taugt und sogar die eigenen Mitschriften ablösen könnte. Fast einhellig kam dazu von den Experten auf der Tagung der Apell an die Institutionen Twitter in die eigene Strategie zu implementieren. Vorbildlich hier auch der Einsatz des Keynotespeakers Neal Stimler, der die Veranstaltung aus New York live begleitete und via Twitter mitdiskutierte bzw. interagierte. Für mich auch symptomatisch, dass zwei der spannendsten Präsentationen von Tagung und Camp, das Storytelling-Projekt des Stadttheaters Bern (vgl. dazu den Blogpost von Caspar Loesche in der Blogparade) und die Münchner bzw. Frankfurter Tweetups, den Microbloggingdienst mit der erstaunlichen Reichweite in die jeweilige Kommunikationsstrategie integrieren oder sogar maßgeblich damit arbeiten (vgl. Präsentation auf Slideshare).
Der Blick ins Ausland und der Frust der Social-Media-Beauftragten
Eine Schlußbemerkung will ich mir nicht verkneifen:  Fast zeitgleich zu unserer Tagung fand in San Diego (CA, USA) die Tagung „Museums and the Web 2012“ statt. Mit wachsender Begeisterung habe ich auch (diesmal noch aus der Ferne) die Sessions, Tweets (Hashtag #mw2012 und Archiv) und Blogposts dieser Konferenz verfolgt. Auch wenn dieser Blick nur bedingt zulässig ist (die US-Tagung gehört zu den etablierten Riesen des Gewerbes), so kann  ich mich des Eindrucks nicht erwehren, dass man dort bereits wechselnde Strategien evaluiert und laufend neue Konzepte, Instrumente oder Strukturen diskutiert, während wir hier in Deutschland (und wohl auch in Österreich und der Schweiz) noch über Sinn und Unsinn oder erste Schritte grübeln. Seit dem letzten Jahr ist zwar deutlich Schwung in den „Aufbruch“ der Institutionen gekommen, von einer geplanten Struktur, einer echten Strategie (oder dem Veständnis einer Kultureinrichtung als „Plattform“ mit Interesse und Öffnung gegenüber einer digitalen Rezipientenkultur) sind die meisten Häuser aber noch meilenweit entfernt. Im Gegenteil scheint vielfach engagiert vorgetragenes Potential in den Initiativen einzelner zu „verrauchen“, während Kommunikation und Vermittlungskonzepte in etablierten Strukturen gefangen bleiben. Und daher würde ich Christian Holst Recht geben (der Axel Koop zitiert), wenn er den Frust konstatiert, der Deutschlands Social-Media-Beauftragten (die es in einer Handvoll deutscher Museen sogar bereits gibt) vielfach die Tränen in die Augen treibt: „Die Nachhaltigkeit dieser Aktivitäten ist kaum je gewährleistet, wohl aber der Frust der Verantwortlichen. Immer wieder kam mir Axel Kopps Satz in den Sinn, die “Social Media-Beauftragten von Kultureinrichtungen weinen jede Nacht.” Der Erfolg von Projekten hängt an einzelnen Personen, die sich für wenig Geld aber mit viel Herzblut engagieren. Kein Wunder, wenn sie früher oder später den Absprung wagen und sich eine Betätigung suchen, bei der wenigstens die Bezahlung eine gewisse Wertschätzung für die Arbeit ausdrückt. Die Kultureinrichtungen, die diesen “Braindrain” im Bereich Social Media erleben, müssen dann oftmals wieder bei Null anfangen, weil die Aktivitäten konzeptionell überhaupt nicht in die sonstige Öffentlichkeitsarbeit eingebunden haben und das Engagement Ihrer Social Media Beauftragten damit ins Leere laufen lassen“
In diesem Sinne haben wir mit unserer Veranstaltung womöglich keine Brandfackel geworfen, aber zumindest 150 neue Kerzen angezündet. Hoffen wir, dass es nur der Kerzenrauch ist, der manche Träne verursacht und dass die Institutionen erkennen, das sich bei gutem Licht auch vortrefflich denken läßt und es von Vorteil ist, wenn man sein Auditorium auch „sehen“ kann. Leuchten! Aufbruch! Weiterhin!

3 comments

  1. Ich kam auch vom Schreibtisch und gehörte eher zu den Suchenden, will aber der Appell an die Museen unterstützen. Auch Kleinstmuseen in Frankreich haben einen Internetauftritt, sind bei Twitter und/oder bei Facebook und mitten im Dialog mit ihrer kleineren oder größeren Fangemeinde. Da gibt es hierzulande wirklich sehr viel Nachholbedarf.

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