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Blog von Christian Gries / ISSN 2197-7747

"Entartete Kunst" – Der Berliner Skulpturenfund von 2010 (und die Ausstellung in der Neuen Pinakothek, München)

"Entartete Kunst" – Der Berliner Skulpturenfund von 2010 (und die Ausstellung in der Neuen Pinakothek, München)

Handzettel zur Ausstellung Entartete Kunst in München 1937
Handzettel zur Ausstellung Entartete Kunst in München 1937 (Bildquelle: Wikipedia)

2010 wurden bei Bauarbeiten in Berlin längst verschollen geltende Skulpturen der klassischen Moderne gefunden, die während des dritten Reiches als „entartet“ gebrandmarkt und auf zahlreichen Ausstellungen „Entartete Kunst“ gezeigt wurden.
75 Jahre nach dem berüchtigten Auftakt der Feme-Ausstellungen in München zeigt auch die Neue Pinakothek den Berliner Skulpturenfund. Eine Ausstellung, die unter die Haut geht. Die gezeigten Fragmente, Bruchstücke und Rekonstruktionen offenbaren den Wahnsinn und die Brutalität des nationalsozialistischen Kunstbegriffs. Zudem machen sie die Rücksichtslosigkeit der NS-Kulturpolitik deutlich und veranschaulichen beispielhaft, welch tiefgreifende Spuren die Aktion „Entartete Kunst“ in den Sammlungen der Museen (auch bei den Pinakotheken) bzw. der Kultur- und Geistesgeschichte Deutschlands hinterlassen hat.
Die Beschlagnahmungen in München
Unter Leitung von Adolf Ziegler, dem Präsidenten der „Reichskammer der Bildenden Künste“, wurden 1937 zunächst in der Direktion der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen vierzehn Gemälde und eine Plastik von Max Beckmann, Heinrich Campendonk, Karl Caspar, Lovis Corinth, Josef Eberz, Oskar Kokoschka, Franz Marc, Emil Nolde, Hans Purrmann, Edwin Scharff, Georg Schrimpf, Karl Schmidt-Rottluff und Paul Thalheimer beschlagnahmt. In einer zweiten Aktion beschlagnahmte man dann weitere 110 Werke aus den Depots der Alten Pinakothek, der Neuen Staatsgalerie am Königsplatz (heute Antikensammlung) und dem Bibliotheksgebäude des Deutschen Museums. Insgesamt wurden 137 Arbeiten von den Münchner Kommissionen konfisziert und an die Reichskammer der Bildenden Künste in Berlin ausgeliefert.
Edwin Scharff, Bildnis der Schauspielerin Anni Mewes, 1917/1921, Zustand nach der Restaurierung 10/2010, © Museum für Vor- und Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Achim Kleuker
Edwin Scharff, Bildnis der Schauspielerin Anni Mewes, 1917/1921, Zustand nach der Restaurierung 10/2010, © Museum für Vor- und Frühgeschichte, Staatliche Museen zu Berlin, Foto: Achim Kleuker

Das Bronzebildnis »Anni Mewes«
Weniger als fünf Prozent der beschlagnahmten Werke konnten zurück gewonnen werden. Eines der beeindruckendsten Objekte aus dem „Berliner Skulpturenfund“ ist das seit 1939 vermisste Bildnis der Schauspielerin Anni Mewes (1896-1980) von Edwin Scharff (1887-1955) aus der Sammlung der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen.
Das Bronzebildnis der damals erst 22-jährigen Schauspielerin war eine der populärsten Porträtskulpturen ihrer Zeit und geht auf eine persönliche Begegnung des Künstlers mit Mewes am Chiemsee zurück. Beeinflusst von der 1913/14 erstmals in Berlin gezeigten Büste der Nofretete schuf Scharff das beeindruckende Bildnis in ägyptisierendem Profil.
Anni Mewes
Anni Mewes

Mewes trat bereits als 18-jährige am Lessingtheater in Berlin und an der Wiener Volksbühne auf. Otto Falkenberg holte sie an die Münchner Kammerspiele. 1918 ging die Schauspielerin an die Hamburger Kammerspiele und 1920 zu Max Reinhardt nach Berlin. Ihr Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke wird heute in der Bayerischen Staatsbibliothek in München verwahrt. 1935 verließ sie Berlin, spielte am Josefstädter Theater in Wien und ging mit Marianne Hoppe auf Tournee. 1980 verstarb sie in München.
Edwin Scharff gehört neben Wilhelm Lehmbruck, Ernst Barlach und Georg Kolbe zu den bedeutendsten deutschen Bildhauern der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Er begann als Maler, wandte sich jedoch bald der Bildhauerei zu und fühlte sich einer figürlichen Kunstauffassung verpflichtet. Schaffensstationen des gebürtigen Neu-Ulmers waren München, Berlin, Düsseldorf und Hamburg. Als „entartet“ verfemt, wurde Scharff in den 1930er Jahren mit Ausstellungs- und Arbeitsverbot belegt. In der Nachkriegszeit rehabilitiert, lehrte und arbeitete der Künstler schließlich bis zu seinem Tod im Jahre 1955 in Hamburg. Seiner Person und seinem Werk ist heute ein eigenes Museum in Neu-Ulm gewidmet.
Emy Roeder, Schwangere, 1918 © Foto: Achim Kleuker, Berlin
Emy Roeder, Schwangere, 1918 © Foto: Achim Kleuker, Berlin

Die Geschichte des Berliner Skulpturenfundes
Die Skulpturen wurden bei Grabungen in der Rathausstraße, der ehemaligen Königstraße 50, gegenüber dem Roten Rathaus in Berlin gefunden. Im Vorfeld des Ausbaus wurden im Januar 2010 wurde bei der Freiräumung von Kellerböden ein auffälliger metallener Gegenstand geborgen, der nach einer ersten Reinigung als Kunstwerk identifiziert wurde. Einige Wochen später stand fest, dass es sich um ein Bildnis der Schauspielerin Anni Mewes von Edwin Scharff handelte. Die Tragweite des Fundes lag jedoch im Dunkeln, da der Einzelfund zu diesem Zeitpunkt zahlreiche Hintergründe hätte haben können. Im August 2010 wurden dann weitere Bronze- und Terrakottaskulpturen entdeckt und ebenfalls zur Analyse ins Museum für Vor- und Frühgeschichte gebracht.
Emy Roeder: “Schwangere”, 1918, in der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München (© Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin)
Emy Roeder: “Schwangere”, 1918, in der Ausstellung „Entartete Kunst“ 1937 in München (© Zentralarchiv, Staatliche Museen zu Berlin)

Erst nachdem ein roter Terrakottakopf als Teil der Arbeit »Die Schwangere« von Emy Roeder identifiziert wurde, zeichnete sich die Verbindung zu der Aktion »Entartete Kunst« ab. Die Skulpturen waren offenbar bei der Zerstörung des Gebäudes in der Königstraße aus einer der darüber liegenden Etagen herabgestürzt.
Folgen der Aktion »Entartete Kunst«
Mit Erlass Hitlers vom 27. Juli 1937 wurden 19.500 Werke der »Verfallszeit«, wie die Nationalsozialisten die Moderne geißelten, aus allen Museen des Reichs, der Länder und Kommunen beschlagnahmt, in Depots verbannt, Devisen bringend verkauft oder zerstört. Die staatlichen Maßnahmen wurden nachträglich durch das »Gesetz über die Einziehung von Erzeugnissen entarteter Kunst« vom 31. Mai 1938 legalisiert. Viele Werke sind bis heute nicht auffindbar. Die deutsche Museumslandschaft und ihre historisch gewachsenen Sammlungen wurden grundlegend verändert oder gar zerstört.
Aktuelle Forschungen zur Aktion »Entartete Kunst«
Die Forschungsstelle »Entartete Kunst« an der Freien Universität Berlin rekonstruiert seit 2002 die Beschlagnahme moderner Kunst und erforscht das Schicksal der Werke. Sie entdeckte dann auch im Bundesarchiv ein Dokument, das entscheidende Informationen zur Herkunft der Berliner Skulpturen enthält: Eben in der Königstraße 50 lagerte das Reichspropagandaministerium offenbar beschlagnahmte Kunstwerke, nachdem sie von der Ausstellungstour »Entartete Kunst« nach Berlin zurückgeschickt wurden. Das Haus wurde im Frühsommer 1944 bei Bombenangriffen zerstört, die Skulpturen im Schutt begraben.
Die Forschungsstelle »Entartete Kunst« ist mit den weiteren Forschungen zum Fund befasst. Die recherchierten Ergebnisse werden abschließend in das Gesamtverzeichnis der 1937 in deutschen Museen beschlagnahmten Werke der Aktion ‚Entartete Kunst« eingespeist. Die Datenbank umfasst Angaben zu Künstlern, Objekten, Herkunftsmuseen, zur Beschlagnahme, den Lagerorten, Händlern und Käufern sowie historische und aktuelle Abbildungen und bietet umfassende Informationen zum Werk betroffener Künstler, zur Sammlungsgeschichte der Museen und dem Kunsthandel im »Dritten Reich«.
Der von den Nationalsozialisten propagierte Kunstentwurf, wie er beispielswiese auch in den sog. „Grossen Deutschen Kunstausstellungen“ im Münchner Haus der Kunst inszeniert wurde, kann mittlerweile ebenfalls in einer eigenen Datenbank recherchiert werden: GDK Research. Und wer sich noch intensiver mit der NS-Kunstauffassung auseinandersetzen möchte, dem sei ohnehin ein Besuch in der Ausstellung „Geschichten im Konflikt“ im Haus der Kunst empfohlen. Hier werden derzeit ausgewählte Werke der verfemten klassischen Moderne mit protegierten Arbeiten der NS-Kunst konfrontiert.
Veranstaltungen zur Ausstellung:
26.11. | 18.30 
Matthias Wemhoff (Berlin) »’Entartete’ Kunst im Bombenschutt. Entdeckung und Interpretation des Berliner Skulpturenfundes«
Christoph Zuschlag (Koblenz-Landau) »Die NS-Aktion ‚Entartete Kunst’ und ihre Auswirkungen auf München«
03.12. | 18.30
Helga Gutbrod (Neu-Ulm) »Die Frische der ursprünglichen Idee« Edwin Scharffs Bildnis der Anni Mewes
Tessa Rosebrock (Karlsruhe) »Emy Roeder: Schwangere, 1918 – Weiblichkeit expressionistisch«
Isgard Kracht (Köln) »Fragment einer Utopie – Otto Freundlich, Kopf, 1925«
App zur Ausstellung "Entartete Kunst"
App zur Ausstellung „Entartete Kunst“

App zur Ausstellung:
Zur Ausstellung wurde eine zweisprachige (Deutsch/Englisch) App herausgegeben, die von NOUS Knowledge Management entwickelt wurde. Die App bietet bebilderte Kapitel zum Skulpturenfund (1), der Aktion „Entartete Kunst“ (2), Künstler und Werke (3), Beschlagnahmen bei den Staatsgemäldesammlungen (4) und allgemeine Informationen (5). Im Gesamteindruck ist die App sehr informationslastig und wenig inspiriert, Zudem ist sie deutlich textlastig (bei einer äusserst problematischen und nicht skalierbaren Schriftgröße) und auch ein Teil der Abbildungen offenbar nicht für Retina-Displays optimiert und unscharf. Der Download der App ist kostenlos.
Download der App via itunes (hier getestet: Version 1.0 vom 26.10.2012), 61.7 MB
Publikation:
Der Berliner Skulpturenfund. »Entartete Kunst« im Bombenschutt. Entdeckung – Deutung – Perspektive. Hrsg. von Matthias Wemhoff in Zusammenarbeit mit Meike Hoffmann und Dieter Scholz. Begleitband zur Ausstellung mit den Beiträgen des Berliner Symposiums. Regensburg 2012
 

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